Logo Niedersächsisches Justizministerium: zur Startseite Niedersachsen klar Logo

Keine Gerechtigkeit für Frederike von Möhlmann - Unterstützt die Landesregierung die Forderungen des Vaters? (Große Anfrage der Fraktion der CDU)

Rede der Niedersächsischen Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz zu TOP 20:


Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 14. April 2016


Es gilt das gesprochene Wort!

„Im Jahr 1981 ereignete sich in Niedersachsen ein furchtbares und abscheuliches Verbrechen. Die damals 17jährige Frederike von Möhlmann wurde im Landkreis Celle vergewaltigt und getötet aufgefunden.

Das Landgericht Lüneburg verurteilte einen Angeklagten im Jahr 1982 wegen dieses Verbrechens zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Stade. In dem neuen Verfahren sprach das Landgericht Stade den Angeklagten schließlich im Jahr 1983 frei. Seinerzeit konnte das Landgericht Stade Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht überwinden. Der Freispruch wurde rechtskräftig.

Wir alle wissen, dass im Jahr 2012 aufgrund der über die Jahre stark fortentwickelten DNA-Untersuchungsmethodik die Prüfung einer an der Kleidung von Frederike von Möhlmann gesicherten Spur zu einem neuen konkreten Tatverdacht gegen den im Jahr 1983 rechtskräftig freigesprochenen Tatverdächtigen führte.

Ein neues Verfahren gegen den früheren Tatverdächtigen konnte nicht eingeleitet werden. Die nach der Strafprozessordnung zwingenden Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des im Jahr 1983 durch den rechtskräftigen Freispruch abgeschlossenen Strafverfahrens zu Ungunsten des Angeklagten gem. § 362 StPO sind - unstreitig - nicht gegeben, insbesondere hat der Tatverdächtige auch im Angesicht der neuen DNA-Erkenntnisse die furchtbare Tat nicht gestanden.

Dies ist die juristische Seite des Geschehenen. Auf der anderen Seite steht die menschliche Tragödie, die damit verbunden ist und die auch heute noch die Angehörigen von Frederike nicht zur Ruhe kommen lässt. Niemand, der nicht selbst eine solche Situation erlebt hat, wird die Gefühle der Angehörigen erfassen können. Wie unsagbar schrecklich muss es sein, wenn ein Angehöriger und insbesondere das eigene Kind Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens wird. Völlig unvorstellbar und furchtbar muss es für die Angehörigen der getöteten Frederike von Möhlmann sein, dass der Tatverdächtige trotz des gegen ihn durch die DNA-Ergebnisse bestehenden ganz konkreten Tatverdachts aufgrund der Rechtslage nicht erneut strafrechtlich verfolgt wird.

Ich habe größtes Verständnis dafür, dass die konkrete Situation aufgrund der Rechtslage von den Hinterbliebenen und insbesondere dem Vater von Frederike von Möhlmann als zutiefst ungerecht, ja als schimpflich empfunden wird.

Ihr Vater und auch viele nicht unmittelbar Betroffene des an ihr begangenen schrecklichen Verbrechens fordern, dass die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafprozesses auch dann möglich sein soll, wenn auf der Grundlage neuer wissenschaftlich anerkannter Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils noch nicht zur Verfügung standen, neue Beweismittel beigebracht werden.

Ich habe diese Möglichkeit unmittelbar nachdem der Fall an mich herangetragen wurde prüfen lassen. Gerechtigkeit für den jeweiligen Einzelfall, besser: die Sühne für die Tat könnte nur so erreicht werden.

Das Recht muss allerdings den Blick vom Einzelfall auf das ganze Rechtsgefüge richten. Sehr sorgfältige und ausführliche Prüfungen meines Hauses führen hier zu dem schmerzlichen Ergebnis, dass einer Erweiterung des bereits in der Strafprozessordnung vorgesehen Katalogs von Wiederaufnahmegründen zu Ungunsten des Angeklagten das Grundgesetz entgegensteht. Der Verfassungsgrundsatz des „ne bis in idem“, das sogenannte Verbot der Doppelbestrafung, lässt die Schaffung eines Wiederaufnahmegrundes zu Lasten des Angeklagten bei neuen Beweismitteln nicht zu. Aufgrund dieser Unvereinbarkeit sind daher in der Vergangenheit auch bereits mehrere gesetzgeberische Initiativen gescheitert.

Jener in Artikel 103 Abs. 3 des Grundgesetzes verankerte Verfassungsgrundsatz reicht nämlich über ein bloßes Verbot der Doppelbestrafung hinaus. Er verbietet grundsätzlich auch schon eine erneute Strafverfolgung. Ausnahmen davon sind nur in äußert eng begrenzten Fällen möglich. Diese sind bereits in § 362 der Strafprozessordnung abschließend geregelt. Für den Bereich des Strafrechts ist das „ne bis in idem“-Prinzip ein mit Verfassungsrang ausgestatteter fundamentaler Grundsatz eines jeden fairen Strafprozesses. Es muss demnach bei jedem Strafverfahren bereits am Anfang geprüft werden, ob ein Strafklageverbrauch im Sinne von Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz, das „ne bis in idem“, vorliegt. Im Fall der Frederike von Möhlmann hat der rechtskräftige Freispruch des Tatverdächtigen im Jahr 1983 zu einem derartigen Strafklageverbrauch geführt.

Völlig zu Recht wird die Frage formuliert, ob dies auch so sein kann, wenn auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse feststeht, dass die frühere Entscheidung des Gerichts unzutreffend war. In diesem Fall erscheint das frühere Urteil kaum erträglich. Der Rückgriff auf eine Unerträglichkeitsgrenze ist aber nicht geeignet, einen Eingriff in Artikel 103 Abs. 3 des Grundgesetzes in Form eines neu zu schaffenden Wiederaufnahmegrundes zu Lasten des Angeklagten bei neuen Beweismitteln zu rechtfertigen. Dies liegt daran, dass ein Rückgriff auf eine Unerträglichkeitsgrenze nicht hinreichend konkretisierbar und damit rechtssicher ist. Was für unerträglich gehalten wird, ist von einer Vielzahl von Wertentscheidungen abhängig. Einer eindeutigen Definition ist dieser Begriff nicht zugänglich. Nur unter dieser Voraussetzung wäre die Einschränkung eines grundgesetzlich geschützten Bereichs möglich.

Wir sollten uns darüber hinaus auch vor Augen führen, aus welchem Grund die Väter und Mütter des Grundgesetzes das Verfahrenshindernis der Rechtskraft in den Rang eines Prozessgrundrechts erhoben haben: Als allgemeines Prozessrecht war der Grundsatz „ne bis in idem“ - wie seine Fassung in lateinischer Sprache zeigt - eine Jahrhunderte alte Entscheidung für die Rechtssicherheit, ein Schutzrecht für Unschuldige, die nach einem durchgestandenen Prozess neu anfangen können ohne mit erneuter Strafverfolgung rechnen zu müssen. Der Grundsatz nimmt in Kauf, dass davon auch freigesprochene Schuldige profitieren.

Die Aufnahme in die Verfassung beruht auf den Erfahrungen mit der Rechtspraxis des nationalsozialistischen Unrechtsregimes, das vor erneuter Verfolgung schon abgeurteilter Taten nicht zurückschreckte und die uferlose Durchbrechungen der Rechtskraft zum Zwecke härterer Bestrafung ermöglichte. Die Ergänzungen von rechtskräftigen Urteilen, in denen die Strafe nicht dem sogenannten gesunden Volksempfinden entsprach, führten zu der Entscheidung, diesen bis dato nur allgemein anerkannten Grundsatz mit Verfassungsrang auszustatten und ihn so vor Einschränkungen zu schützen. Die Herausforderungen für die Gerechtigkeit im einzelnen Fall war von Anfang an mitbedachte Folge dieser Entscheidung.

Der Blick der Justiz auf das Ganze erlaubt es der Justiz Grundsätze zu entwickeln, die weit über den Einzelfall hinausgehen und unser Rechtssystem in seiner Gesamtheit zu einem Stützpfeiler der Gesellschaft machen. Einzelfälle wie der Fall der Friederike von Möhlmann sind immer wieder zwingende Prüfaufträge, ob Recht neu geschrieben werden muss, sie zeigen auch auf, wo in Ansehung der Verfassung die Grenzen von neuen Rechtssetzungen liegen.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der deutschen Geschichte wurde durch den Artikel 103 Abs. 3 Grundgesetz dem Rechtsfrieden Vorrang vor einer möglichen Gerechtigkeitslücke eingeräumt. Die Entscheidung ist nach sorgfältiger Prüfung eindeutig. Das Prozessgrundrecht des Grundgesetzes erlaubt hier eine nachträgliche Bestrafung nach Freispruch nicht.

In dem konkreten schrecklichen Fall von Frederike von Möhlmann könnte die Schaffung eines solchen neuen Wiederaufnahmegrundes auch nicht zu einer Sühne der Tat führen. Denn das in Artikel 20 des Grundgesetzes und damit ebenfalls mit Verfassungsrang versehene Rückwirkungsverbot würde eine Anwendung neuer Wiederaufnahmegründe zu Lasten des Angeklagten auf einen bereits erfolgten rechtskräftigen Freispruch, wie er im Fall von Frederike von Möhlmann erfolgt ist, verbieten.

Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die Frage der Verjährung von Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüchen eingehen. Der Vater von Frederike von Möhlmann hat solche Ansprüche gegen den mutmaßlichen Mörder von Frederike geltend gemacht. Dabei geht es sicher nicht um den finanziellen Aspekt, sondern um die gerichtliche Feststellung einer Täterschaft. Das Landgericht Lüneburg hatte bereits in erster Instanz die Klage von Frederikes Vater abgewiesen. Das Oberlandesgericht Celle hat heute in zweiter Instanz die Berufung zurückgewiesen. Auch die Berufung wurde ausweislich der heutigen Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Celle jedenfalls deshalb zurückgewiesen, weil die Ansprüche von Friederikes Vater verjährt seien.

Noch liegen uns die schriftlichen Urteilsgründe nicht vor. Sobald dies der Fall ist, werden wir genau prüfen, ob Änderungen der Verjährungsvorschriften erforderlich sind.

Die Ermordung von Frederike von Möhlmann war eine abscheuliche Tat. Viele Tausend Menschen sind hiervon berührt, wie sich aus der Online-Petition von Herrn von Möhlmann ergibt. Unsere Gerichte sind vor die Aufgabe gestellt, Recht zu sprechen. Nicht jede Entscheidung kann Gerechtigkeit schaffen.

Ich kann verstehen, dass die Regelungen des Gesetzgebers zur Wiederaufnahme von Strafverfahren in dem Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann schwer erträglich sind. Die Rechtsordnung des Grundgesetzes mutet uns dies aus guten Gründen zu.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.“

Presseinformation

Artikel-Informationen

erstellt am:
14.04.2016

Ansprechpartner/in:
Herr Marco Hartrich

Nds. Justizministerium
Pressesprecher
Am Waterlooplatz 1
30169 Hannover
Tel: 0511 / 120 - 5162

www.mj.niedersachsen.de

zum Seitenanfang
zur mobilen Ansicht wechseln