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Rede der Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz aus Anlass des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges am 6. Mai 2015 in der Villa Seligmann

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserer Veranstaltung aus Anlass des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges.

Vorab möchte ich mich bei zwei Personen bedanken, die diese Veranstaltung erst ermöglicht haben. Das ist zum einen Herr Professor Izsák, der uns die ebenso schönen wie beziehungsreichen Räumlichkeiten der Villa Seligmann heute Abend zur Verfügung gestellt hat und der darüber hinaus den musikalischen Teil des Abends gestalten wird. Es ist zum andern Frau Dr. Ursula Beyrodt, eine frühere Richterin und Beamtin des Niedersächsischen Justizministeriums, die sich bereit erklärt hat, mit mir ein Gespräch über das Schicksal ihrer Familie in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit zu führen. Beiden gilt mein besonderer Dank.

In den letzten Wochen hat es eine Vielzahl von Veranstaltungen gegeben, in denen an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren gedacht wurde. Im Zentrum standen die in den Konzentrationslagern begangenen Verbrechen und die Befreiung dieser Lager durch die alliierten Truppen. Unsere heutige Veranstaltung hat einen anderen Schwerpunkt. Mir geht es darum deutlich zu machen, dass auch die Justiz einen maßgeblichen Beitrag zur Errichtung, Stabilisierung und Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates geleistet hat. Im sogenannten „Juristenurteil“ hat der US-amerikanische Militärgerichtshof die Vorwürfe gegen die damaligen Angeklagten wie folgt zusammengefasst:

„Die Beschuldigung ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts unter der Autorität des Justizministeriums und mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.“

Der letzte, klassisch gewordene Satz kennzeichnet meines Erachtens zutreffend den Beitrag der Justiz zum Unrecht der NS-Zeit.

Es liegt auf der Hand, dass ein so komplexes Thema wie der Beitrag der Justiz - genauer ihrer Juristen - zur Stabilisierung und Aufrechterhaltung der Nazidiktatur in einer Veranstaltung von rund 90 Minuten Dauer nicht erschöpfend abgehandelt werden kann. Wir müssen uns daher auf einige wenige Aspekte beschränken.

Beginnen wir mit dem Personal der Justiz: Die Nazis gingen sofort daran, Juristen jüdischer Abstammung und politisch unerwünschte Richter aus der Justiz zu entfernen. Die Handhabe hierfür bot das von der Reichsregierung im April 1933 beschlossene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Es ermöglichte die Entlassung "nicht arischer" Richter, wobei allerdings zunächst Ausnahmen vorgesehen waren, etwa für Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges. Entlassen werden konnten auch solche Beamten und Richter, die - wie es im Gesetz hieß - "nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten". Das Gesetz führte dazu, dass in Preußen rund 300 Richter und Gerichtsassessoren wegen ihrer jüdischen Abstammung und rund 100 Richter wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Linksparteien aus dem Dienst entfernt wurden. In ähnlicher Weise waren auch die Rechtsanwaltschaft und die Notare von Säuberungsmaßnahmen betroffen.

Das Ergebnis war eine Justiz, deren Personal dem neuen Staat aufgeschlossen gegenüberstand. Dies galt insbesondere für die Richterschaft. Der Deutsche Richterbund beeilte sich, der neuen Staatsführung zu versichern, dass alle deutschen Richter bereit seien, am "Aufbau des nationalen Staates" mitzuwirken. Die deutschen Richter hatten auch keine Bedenken, ihr Bekenntnis zum Dritten Reich öffentlich zu machen: Als im Oktober 1933 in Leipzig der erste Juristentag nach Hitlers Machtantritt stattfand, versammelten sich auf dem Platz vor dem Reichsgericht mehr als 10.000 Juristen und schworen mit erhobenem rechten Arm "bei der Seele des deutschen Volkes, dass wir unserem Führer auf seinem Weg als deutsche Juristen folgen wollen bis zum Ende unserer Tage".

Nach dieser Ergebenheitsadresse verwundert es nicht, dass ein großer Teil der Justizjuristen der NSDAP beitrat: 1938 waren über 54 % der Richter und Staatsanwälte Mitglied dieser Partei, bis 1945 stieg der Organisationsgrad auf über 90 %.

Neben der personellen "Säuberung" der Justiz trafen die neuen Machthaber eine Reihe organisatorischer Maßnahmen, um der Justiz im Rahmen der Bekämpfung politischer Gegner mehr Schlagkraft zu verleihen. Schon im März 1933 wurden Sondergerichte gebildet, 1934 folgte die Errichtung des Volksgerichtshofs. Es ging um schnelle Entscheidungen, Rechte der Angeklagten wurden massiv eingeschränkt, Urteile der Sondergerichte konnten nicht angefochten werden. Die Urteile wurden sofort rechtskräftig.

Umfassende Änderungen des Strafrechts folgten. Sie sind insbesondere gekennzeichnet durch einen starken Anstieg der Straftatbestände, die die Todesstrafe androhten. Zu Beginn der NS-Zeit galt sie nur für drei Verbrechen, gegen Ende des Krieges konnte in rund 45 Delikten auf Todesstrafe erkannt werden.

Mit den skizzierten Änderungen des Straf- und Strafverfahrensrechts war den Gerichten ein furchtbares Instrumentarium an die Hand gegeben.

Und die Sondergerichte wurden ihrem Kampfauftrag als "Panzertruppe der Rechtspflege", wie Freisler sie nannte, gerecht. Durch die Verhängung von rund 11.000 Todesurteilen leisteten sie ihren Beitrag zu dem, was sie "Stabilisierung der Heimatfront" nannten. Hinzu kamen rund 5.300 vom Volksgerichtshof verhängte Todesurteile, von denen die ganz überwiegende Zahl auch vollstreckt worden ist. Die exzessive Urteilspraxis des Volksgerichtshofs hat den Deutschen Bundestag im Jahre 1985 zu einer Entschließung veranlasst, in der festgestellt wird, dass die als Volksgerichtshof bezeichnete Institution kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinne, sondern ein Terrorinstrument zur Durchsetzung nationalsozialistischer Willkürherrschaft war.

Übrigens haben sich nicht nur die Strafrichter des Dritten Reiches als äußerst anpassungswillig und -fähig erwiesen. Ihre mit dem Zivilrecht befassten Kollegen waren nicht minder eifrig, wenn es darum ging, dem sogenannten gesunden Volksempfinden im bürgerlichen Recht zum Durchbruch zu verhelfen. So begannen die deutschen Gerichte schon im Herbst 1933 damit, die nach nationalsozialistischer Auffassung untragbaren Ehen zwischen Juden und Nichtjuden aufzulösen. Und das - wohlgemerkt - bei unverändertem Wortlaut des Bürgerlichen Gesetzbuchs! § 1333 BGB ermöglichte die Anfechtung einer Ehe wenn sich ein Ehegatte über eine wesentliche Eigenschaft des anderen Ehegatten geirrt hatte. Als erstes erklärten sie die Zugehörigkeit eines Ehegatten zur jüdischen Rasse zur persönlichen Eigenschaft. Da aber der arische Ehegatte bei der Eheschließung in der Regel wusste, dass er einen jüdischen Partner heiratete, erfanden die Gerichte einen weiteren Irrtum, nämlich den Irrtum über die Bedeutung des Judentums. Nun gab es auch noch eine 6-Monats-Frist für die Anfechtung. Die war in den meisten Fällen verstrichen. Darüber setzte man sich mit der Erwägung hinweg, dass dem deutschen Volk erst nach dem Machtantritt die wahre Bedeutung der Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse bewusst geworden sei. Mit dieser abenteuerlichen Konstruktion ermöglichte das Reichsgericht eine Auflösung auch solcher "Rassenmischehen", die schon seit vielen Jahren bestanden. Die Folge davon war, dass dem jüdischen Ehepartner der Schutz, den ihm die Ehe mit einem sogenannten Arier bot, verlorenging.

Die NS-Ideologie drang aber auch in andere wichtige Rechtsgebiete ein, etwa in das Mietrecht, wo den Juden schon frühzeitig der Mieterschutz versagt wurde, und sogar in entlegene Rechtsgebiete wie etwa das Handelsregisterrecht. Dort störte sich etwa das Kammergericht daran, dass in Berlin zahlreiche Unternehmen den Zusatz "deutsch" im Namen führten, obwohl ihre Gesellschafter Juden waren. Sie mussten das Wort "deutsch" aus dem Firmennamen entfernen, der Zusatz täusche, von Juden verwendet, über die Rassezugehörigkeit.

Fassen wir zusammen:

Die Richter haben im Schutz ihrer Unabhängigkeit im Dritten Reich mitgeholfen, das NS-Regime zu stabilisieren. Sie haben die völkischen Rechtslehren der Nazis bis in den letzten Winkel des Rechts hinein verbreitet, und sie haben bereitwillig den Rassenwahn zur Maxime der Gesetzesanwendung gemacht. Im Krieg haben insbesondere die Kriegsgerichte scheinbar Recht sprechend mit weit über 20.000 Todesurteilen das aufrecht gehalten, was die Führung und was sie selbst für Manneszucht des Soldaten hielten, im Innern des Reichs hat sich die Rechtsprechung bemüht, die "Heimatfront" stabil zu halten, wie es hieß.

Was ist nach dem Krieg aus den Juristen des Dritten Reiches geworden? Um es kurz zu machen: Sie waren fast alle wieder da. Die Pläne der Alliierten, die Justiz nicht nur wieder in Gang zu setzen, sondern sie auf eine neue Grundlage zu stellen, sind gescheitert. Die neue Justiz war in Niedersachsen – und nicht nur dort - personell im Wesentlichen die alte. In ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der KPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag musste die Landesregierung im Juni 1948 einräumen, dass von den 767 Richtern und Staatsanwälten, die am 1. Januar 1948 in Niedersachsen tätig waren, 70,4 % ehemalige Mitglieder der NSDAP waren; weitere 97 waren zuvor als Kriegsrichter tätig.

Es ist und bleibt mehr als beschämend, dass die strafrechtliche Bewältigung der Nazijustiz gescheitert ist. Es sei hier nur erwähnt, dass praktisch kein Richter und kein Staatsanwalt wegen seiner Tätigkeit in der Justiz des Dritten Reiches von einem bundesdeutschen Gericht verurteilt worden ist. An dieser Selbstamnestierung der Justiz hatte, was der Bundesgerichtshof allerdings erst 1995 einräumte, die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Rechtsbeugungstatbeständen maßgeblichen Anteil.

Das Fehlschlagen der Entnazifizierung ist ein Problem, das nicht allein die Justiz betrifft. Auch in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung - sei es in der Ministerialbürokratie des Bundes und der Länder, der Polizei, den Hochschulen oder den Geheimdiensten - strömten NS-Belastete in die Amtsstuben zurück. Die Folgen zeigten sich schon sehr bald, indem bereits Ende der 1940er Jahre aus vielen Ecken Rufe nach einem Schlussstrich unter die Entnazifizierung und nach Amnestie erschollen. Der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, griff dies in seiner Regierungserklärung am 20. September 1949 auf, indem er ausführte, mit der "Denazifizierung" sei viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden, so dass es nunmehr an der Zeit sei, die Unterscheidung zwischen politisch Einwandfreien und Nichteinwandfreien nun baldigst verschwinden zu lassen. Wo es ihr vertretbar erscheine, sei die Bundesregierung deshalb entschlossen, Vergangenes vergangen sein zu lassen. Im Ergebnis wurde die „Entnazifizierung“ mit der nahezu vollständigen Rehabilitierung aller Belasteten abgeschlossen.

Es bleibt nach alle dem erschütternd, dass bei den Beteiligten keinerlei Einsicht in das Verwerfliche ihres Tuns vorhanden war. Die Juristen des NS-Staates gerierten sich mehr als Opfer denn als Stütze des Dritten Reiches. Wegen ihrer Erziehung und Ausbildung zur Gesetzestreue, so eine weit verbreitete Argumentation, hätten sie weder erkennen können, noch erkennen müssen, dass sie im Reichsgesetzblatt verkündetes Unrecht angewandt hätten. Hitler sei es daher leichtgefallen, die Juristen für seine finsteren Zwecke zu missbrauchen. Ein bedeutender deutscher Strafrechtslehrer, Eberhard Schmidt, hat seine Sicht der Dinge wie folgt formuliert:

"Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hatte die Fahne des Rechts verlassen. Und mit der Verantwortung für die Folgen dürfen heute weder Rechtswissenschaft noch Justiz beladen werden, da diese ganz allein den um jeden rechtlichen Halt gekommenen Gesetzgeber trifft."

Zum Glück ist diese mit der historischen Wahrheit unvereinbare Selbsttäuschung - besser: Geschichtsklitterung - heute, da die Betroffenen aus dem Berufsleben längst ausgeschieden und in der Mehrzahl auch verstorben sind, durch eine differenziertere Betrachtungsweise ersetzt worden. Dazu hat die erst seit Beginn der 1980er Jahre einsetzende wissenschaftliche Erforschung der NS-Justiz einen maßgeblichen Beitrag geleistet. Die Sicht der Dinge von 1947 bestimmt heute schon lange nicht mehr die Bewertung der Rechts- und Justizgeschichte des Dritten Reiches. Die Einsicht in den wahren Charakter der Justiz der NS-Zeit wächst, und ich sehe es als meine Aufgabe an, diese Einsicht zu fördern und wachzuhalten. Das sind wir den Opfern der Nazi-Justiz schuldig.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Presseinformation

Artikel-Informationen

erstellt am:
06.05.2015

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